Der folgende Eintakter spiegelt den ergötzlichen Alltag im Deutschunterricht einer deutschen Lehranstalt wider. Übereinstimmungen mit tatsächlich lebenden Personen sind völlig beabsichtigt, aber sicher nicht von jedermann zu entschlüsseln.
DIE 15 VON DE 14
Schauplatz ist ein würfelförmiges Gebäude. Vor einem kleinen Zimmer warten ein einsamer Lehrer und zwei oder drei einsame Schüler auf das Eintreffen all derer, die sich - nach einem Besuch beim Kiosk des Hausmeisters; nach Begrüßung aller erreichbaren Oberstufenschüler; nach reiflicher Überlegung, ob evtl. irgendein Treffpunkt ausgemacht worden war; nach einem suchenden Blick nach oben, ob schon jemand da ist; usw. - gruppenweise oder vereinzelt die Treppe emporarbeiten, wo sie freudig zum Small talk empfangen werden. Allmählich erscheinen zitronengelbe Büchlein auf den Tischen. Der Lehrer ergreift dankbar die günstige Gelegenheit und versucht die vielfältigen Gespräche in eine gewünschte Bahn zu lenken.
LEHRER (erwartungsfroh): Ihr seht auf Seite 5 diesen Gedankenstrich. Der bedeutet, daß da was geschehen ist, was der Autor nicht aussprechen wollte. Die Marquise von O... und der russische Offizier haben ... also, es scheint doch so zu sein, ich meine, daß er sie ... na ja, könntet ihr euch das vorstellen?
SCHÜLER/IN: Also, das war doch jetzt der Offizier, der die Festung gestürmt hat, oder? Ja, gut, also dann hat er doch schon - äh, jetzt weiß ich nimmer, was ich sagen wollte - halt, doch, jetzt hab ich's. Die war ja schon vorher ohnmächtig geworden, und als der dann kam, konnte sie natürlich - oder? Ach, ich weiß auch nicht!
SCHÜLER/IN (blätternd): Ich habe auf Seite 47 eine Stelle gefunden, an der man deutlich sieht, daß sie nichts gewußt haben konnte (blätter), was man auch auf Seite 33 sieht (blätter), als sie mit ihrem Vater spricht, der später, als der Offizier zu Gast ist - ich weiß jetzt nicht genau, wo das steht (blätter) - das nochmals andeutet, wobei man ja auch an Kleists Biographie erkennen kann ...
LEHRER (erwartungsvoll): Macht da jemand ein Referat?
SCHÜLER/IN: ... ja, ich! Für morgen und übermorgen?
SCHÜLER/IN: Ich kann's mir ja eigentlich nicht so ganz vorstellen, aber wenn man so ganz ohne Besinnung ist, eigentlich ist es wie ein Traum, man stellt sich Dinge vor, die im Unterbewußtsein in uns sind, und man hat dann sicher Probleme, wenn man aufwacht, sich darüber klar zu werden, ob das nun Wirklichkeit war oder nicht, und - was wollte ich jetzt eigentlich sagen? Jetzt isses weg ..
SCHÜLER/IN: ich glaube, daß der Offizier gar nicht bei der Marquise geblieben ist. Immerhin ist die Marquise in einem Zimmer untergebracht, in dem der Offizier eigentlich gar nicht bleiben konnte. Außerdem ist auch gar nicht gesagt, wo er eigentlich gerade ist, es ist nur eine Vermutung, daß er bei der Marquise ist. Bei der konnte er aber eigentlich gar nicht bleiben, weil ...
LEHRER (vorsichtig): Ja, möglich, ...
SCHÜLER/IN: ... er ja schleunigst zum Kampfplatz zurück mußte und daher gar nicht ...
LEHRER (verzweifelt): Ja, schon, aber ...
SCHÜLER/IN (bestimmt): ... bei der Marquise bleiben konnte. Das alles ist doch sehr fraglich und kann bezweifelt werden.
SCHÜLER/IN: Och, wieso. Du mußt dir doch mal vorstellen - das war doch die Gelegenheit! Ich will ja nichts sagen, aber ... Ihr tut jetzt so, als wäre ... na ja, gut, vielleicht hat der Kleist sich das gar nicht so gedacht, aber so unmöglich ist das doch nicht.
SCHÜLER/IN: Ich hab da jetzt gerade ein Gedicht darüber geschrieben. - Vorlesen? Nee, 's ist noch nicht fertig.
ALLE: Vorlesen!
SCHÜLER/IN: Aber daß niemand beleidigt ist! (Liest:) "In einem blauen Kasten war ein ..."
ALLE (verwundert): Bitte?
SCHÜLER/IN (abwinkend): Ha ja, das ist halt symbolisch!
SCHÜLER/IN: Wie die anderen schon gesagt haben - so eindeutig ist das alles nicht. Ich habe gestern nachmittag nochmals darüber nachgedacht, aber es spricht halt doch manches dafür und manches dagegen.
SCHÜLER/IN: Ich würde überhaupt mal in Frage stellen, ob sich der Kleist dabei was gedacht hat - davon geht man ja immer aus. Vielleicht ist ihm einfach nichts eingefallen und er hat einfach einen Gedankenstrich gemacht, und wir sitzen jetzt da und überlegen. Ist doch eigentlich abartig.
SCHÜLER/IN: Also der Offizier sag ich jetzt einfach mal denn wenn er nicht hätte wäre die Marquise überhaupt nicht auf die Idee gekommen es könnte etwas gewesen sein und wir überlegen ja schließlich auch schon die ganze Zeit ob es eigentlich möglich gewesen wäre womit wir ja immerhin von der Tatsache ausgehen daß so etwas überhaupt geschehen kann das stell ich jetzt einfach mal so in den Raum ja und ich würde auch sagen daß es im weitern Verlauf der Handlung ja letzten Ende nicht die entscheidende Rolle spielt ob er nun tatsächlich - usw.
SCHÜLER/IN (vom Schreiben aufsehend): Können wir nicht mal was Gescheites lesen, was man auch versteht?
SCHÜLER/IN (lächelnd): - -
SCHÜLER/IN: Kleist hat das sich absichtlich offengelassen - wenn das jetzt alles ganz klar wäre, würde der Text ja auch an Spannung verlieren. So fragt man sich eben die ganze Zeit, was da wohl war, auch die Marquise braucht ja lange Zeit, bis sie endlich Gewißheit erlangt-
SCHÜLER/IN: Kleist hat das sicher mit Absicht offengelassen - wenn das jetzt alles ganz eindeutig wäre, würde der Text ja auch weniger spannend wirken. So fragen wir uns eben immer wieder, was da wohl war; auch bei der Marquise dauert es ja lange Zeit, bis sie endlich Gewißheit erlangt.
SCHÜLER/IN: Also, der Typ ist sowas von ätzend. Uääh. Aber ehrlich. Und wenn der Kleist sowas schreibt - der hat ja absolut keine Ahnung, was eigentlich Sache ist! Das ist doch absoluter Schwachsinn, ich könnt mich aufregen!
SCHÜLER/IN: Die Marquise ist sehr erschöpft. Gut. Kein Wunder, daß sie in Ohnmacht fällt. Also. Und der Graf ist vom Kampf auch erschöpft und muß gleich wieder zu seinen Soldaten. Klar. Was soll da jetzt gewesen sein? Wo ist das Problem? Können wir wieder mal was von Kafka lesen?
LEHRER (erleichtert): Schön, dann wäre die Stelle jetzt klar, und wir könnten ...
ALLE (verwirrt): Was ist klar?
EPILOG
Was wollte der Auto uns nun mit diesem Stück sagen? Genau! Es war ...
... ein Kurs, in dem die unterschiedlichsten Naturelle und Temperamente versammelt waren, ein Kurs, in dem (fast) jeder etwas beitrug, ein Kurs, der seinen Lehrer ertrug, ein Kurs, der interessiert und mitarbeitsfreudig und offen war - es war ein Kurs, der Spaß machte!
Vielen Dank an Andrea W., Andrea E., Barbara, Christiana, Christine, Eva, Holger, Jana, Kai, Kirsten, Martina, Michael, Michèle, Petra und Stefan für zwei "unterhaltsame" Jahre!
