Abizeitung

Sonstige Berichte




Ritter vom Größenschwan
Ein allzu deutsches Märchen


Ein mickriger brauner Gänserich war es leid, immer nur im Dorftümpel herumzupaddeln und von den Enten verlacht zu werden. Deshalb sammelte er fleißig Schwanenfedern im nahegelegenen Schloßpark, steckte sie sich nächtens ins Gefieder und machte sich auf den Weg zum Schloßteich. Dort plusterte er seine fremden Federn so lange auf, bis eine Pfauendame auf ihn aufmerksam wurde. Besser eine graue Pfauin als eine häßliche Gans, dachte er bei sich, nahm sie zum Weibe und zeugte zwei Kinder mit ihr, die aussahen wie Papageien.

Die Kunde von deren Schönheit verbreitete sich schnell. Auch der Schloßherrin blieb nicht verborgen, welch außergewöhnliche Vögel ihr Garten beherbergte. Sie sandte Boten aus, die Papageienkinder in den Palast zu holen. Der Gänseschwan und seine Pfauin fühlten sich sehr geehrt, stellten aber eine Bedingung: Bevor sie die weitere Aufzucht ihrer Kinder dem Hofstaat überließen, wollten sie in den Adelsstand erhoben werden. Von da an durften sich der Gänserich und seine Söhne Ritter vom Größenschwan nennen.
Die Königin hatte die .buntgefiederten kleinen Ritter ihrer Tochter als Gespielen zugedacht. Diese fand ihr Vergnügen daran, sie im Schloßhof fliegen oder im Brunnen schwimmen zu lassen. Sie brachte ihnen kleine Kunststückchen bei und lehrte sie Lieder pfeifen. Nur eines, gelang ihr nicht: sie zum Sprechen zu bringen.
"Ich dachte, Papageien sind klug und können sprechen lernen", beklagte sie sich bei ihrer Kammerzofe. "Aber die hier geben immer nur Quak- und Krächzlaute von sich, oder sie schnattern und kreischen zum Steinerweichen."
Die Kammerzofe, der man schon immer nachgesagt hatte, daß sie eine Hexe sei, wurde hellhörig. Unbemerkt schlich sie des Nachts aus dem Schloß zum Teich. Was sie dort im Lichte des Vollmonds erblickte, ließ sie vor Schreck erstarren: Hinter dem Rücken der Schwäne, die ihren Kopf zum Schlaf tief in ihr prächtiges Gefieder gesteckt hatten, entledigte sich Ritter vom Größenschwan seines weißen Federkleids und entpuppte sich als der mickrige braune Gänserich, der er war.
"Verrat! Verrat! schrie die Zofe, schnappte sich die dumme Gans und warf sie der Prinzessin vor die Füße.
"Kein Wunder, daß die Papageien nicht sprechen lernen, sie plappern alles dem Papa nach! rief sie.
Erbost über den Betrug, befahl die Königin, die Größenschwans an den nächstbesten Bauernhof zu verschenken. So fand sich die Familie unglücklich vereint in trauter Umgebung wieder. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann suhlen sie sich heute noch im Schlamm und verbreiten den größten Mist.


Karin Weinmann-Abel, Frühjahr '94

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